Humboldt-Universität zu Berlin - Deutsch

Wissenstransfer im Forschungsprozess

Um eine Bestandsaufnahme des aktuellen Wissenstransfers im Berliner Forschungsraum machen zu können, muss zuerst der Begriff Wissenstransfer definiert werden. „Die Berlin University Alliance definiert Knowledge Exchange als einen Prozess des wechselseitigen Austauschs von Wissen zwischen Akteur:innen aus den Wissenschaften und verschiedenen Bereichen der Gesellschaft wie Politik, Kultur und Wirtschaft“ (Berlin University Alliance 2023). Dies ist ein sehr starker bzw. enggefasster Begriff von Wissenstransfer, dem wir uns in unserer Erhebung schrittweise genähert haben.

Um das Wissenstransferpotenzial in den verschiedenen Forschungsfeldern bestimmen zu können, haben wir die Wissenschaftler:innen zunächst danach gefragt, für welche Gruppen außerhalb der Wissenschaft ihre Forschungsergebnisse relevant sind. Diese Einschätzungen geben Auskunft darüber, in welche gesellschaftlichen Bereiche hinein Wissenstransferaktivitäten möglicherweise entfaltet werden könnten. In einem zweiten Schritt haben wir danach gefragt, ob die Forscher:innen mit den jeweils relevanten Gruppen bereits im Austausch stehen. Diese Angaben deuten an, inwieweit das Potenzial, Wissen in außeruniversitäre Gruppen zu transferieren, bereits ausgeschöpft ist. An den Stellen, an denen Forschung eine Relevanz für geselslchaftliche Gruppen besitzt, mit denen jedoch (noch) kein Austausch besteht, gibt es Potenzial, die Wissenstransferaktivitäten auszubauen oder organisationsseitig zu unterstützen. Ein solches zusätzliches Potenzial scheint interessanterweise vor allem beim Austausch mit Bürger:innen und der Politik zu bestehen (siehe Abbildung 14). Umgekehrt macht es wenig Sinn, ohne Adressatenbezug wahllos Transferaktivitäten zu entfalten.

Relevanz der eigenen Forschung (Wissenstransferpotenzial)

Die meisten Wissenschaftler:innen sehen ihre Forschung grundsätzlich für außerwissenschaftliche Bereiche als relevant an (88 %). So geben nur wenige Befragte an, dass ihre Forschung „überhaupt nicht“ für die erfragten Bereiche relevant ist (2,6 %, ohne Abbildung). Für 17,9 % der befragten Wissenschaftler:innen ist die eigene Forschung genau für einen Bereich außerhalb der Wissenschaft „ziemlich“ oder „sehr“ relevant. Für diese Wissenschaftler:innen gibt es also eine ganz eindeutige Adressat:innengruppe. Für die übrigen 70 % sind mindestens zwei der abgefragten Bereiche mögliche Adressat:innen für den Wissenstransfer der eigenen Forschung. Knapp 20 % geben sogar an, dass ihre Forschung für mindestens fünf Bereiche außerhalb der Wissenschaft „ziemlich“ oder „sehr relevant“ ist.

Im Detail sind die Relevanzeinschätzungen in Abbildung 12 dargestellt. 53,5 % der Befragten geben an, dass die eigene Forschung für „Praktiker:innen“ (z.B. ärztliches Fachpersonal, Techniker:innen, Lehrende) relevant ist. 48,4 % geben an, dass die eigene Forschung für die „Politik“ relevant ist und 48 % geben „Bürger:innen“ als Zielgruppe der eigenen Forschung an. Politik und Bürger:innen sind die zwei Bereiche, zwischen denen die Schnittmenge der Nennungen am größten ist. Das heißt, wenn die Forschung für die Politik relevant ist, wurde häufig auch angegeben, dass sie für Bürger:innen relevant ist. Es geben außerdem 40,9 % an, dass ihre Forschung für die Wirtschaft (Start Ups, Unternehmen, Industrie) relevant ist. Bei zivilgesellschaftlichen Organisationen (wie Stiftungen, Vereine, Verbände, NGOs) geben dies 39,4 % an und bei Medien 32,2%. Die Werte liegen alle recht nah beieinander, lediglich die Relevanzeinschätzung für den Bereich Kunst und Kultur fällt mit 18,7 % etwas zurück. Dies könnte damit zu tun haben, dass den Wissenschaftler:innen nicht das volle Spektrum bewusst ist, worauf Kunst und Kultur sich beziehen kann und somit hier nicht ein unmittelbarer Wissensbedarf gesehen wird, den es zu füllen gibt (vgl. Reinicke et al. 2020). Dementsprechend würde hier, anders als in den anderen außerwissenschaftlichen Bereichen, Wissen weniger nach dem Push-Prinzip, sondern eher entsprechend eines Pull-Prinzips (Thiel 2002) transferiert, bei dem Kunst- und Kulturschaffende selbst auf das Wissen zugreifen, das zu verwerten oder zu referieren sie für geeignet halten. Für diese Vermutung spricht auch, dass 54 % der Befragten keinerlei Relevanz der eigenen Forschung für den Bereich Kunst & Kultur sehen.

Die Relevanzeinschätzungen und der damit verbundene differenzierte Adressatenbezug bilden den Bezugsrahmen für die weitere Untersuchung von Transfer- und Austauschaktivitäten. Ebenso sollten diese Einschätzungen die Grundlage für jedwede Maßnahme zur Steigerung der Wissenstransferaktivitäten im Berliner Forschungsraum sein. Dabei muss eingeräumt werden, dass sich Relevanzeinschätzungen durchaus auch verändern können, z.B. durch Erfahrungen mit den entsprechenden Gruppen.

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Abbildung 12 Relevanz der Forschung für außerwissenschaftliche Bereiche

Hinter diesen Durchschnittswerten für das Wissenstransferprofil verbergen sich deutliche Fächerprofile (siehe Abbildung 13). Diese geben wiederum Hinweise darauf, dass in verschiedenen Forschungsfeldern Wissen mit sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Relevanz produziert wird. So entstehen quasi fachspezifische Transfer- bzw. zunächst Relevanzprofile.

Geisteswissenschaftler:innen betonen die Bedeutung ihrer Forschung für Kunst und Kultur (knapp 73,5 %) sowie für die Medien (57,1 %). Dagegen sehen nur wenige Geisteswissenschaftler:innen eine Relevanz ihrer Forschung für die Wirtschaft (11,6 %). Die wissenschaftlichen Ergebnisse von Sozialwissenschaftler:innen werden von diesen in erster Linie für die Politik (gut 82 %) und zivilgesellschaftliche Akteure (69,7 %) als bedeutsam erachtet.

Bei den Lebenswissenschaften (einschließlich der Medizin) überwiegt die Relevanz für die Gruppe der Praktiker:innen (knapp 71 %). Der Begriff der Praktiker:innen kann sich je nach Fächergruppe auf unterschiedliche Personengruppen beziehen, u.a. ärztliches Fachpersonal, Techniker:innen und Lehrende.

Naturwissenschaftler:innen sehen ebenso wie Ingenieur:innen am häufigsten Verwertungs-möglichkeiten in der Wirtschaft (46,4 % bzw. 75,2 %). Bei den Naturwissenschaften, bei denen keine Zielgruppe klar heraussticht, folgen dicht danach die Bürger:innen (37,8 %) und die Politik mit (32,8 %).

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Abbildung 13 Relevanz der Forschung für außerwissenschaftliche Bereiche, nach Fächergruppen

Es bleibt festzuhalten, dass die Relevanz der eigenen Forschung für verschiedene außerwissenschaftliche Gesellschaftsbereiche je nach Fächergruppe zwar variiert, insgesamt jedoch recht hoch eingeschätzt wird. So ist auch der Anteil derer, die ihre eigene Forschung für keinen Bereich als relevant („kaum relevant“ oder „überhaupt nicht relevant“) ansehen, sehr gering. Hier ist der Anteil bei den Naturwissenschaftler:innen mit knapp 25 % noch am höchsten (siehe Abbildung 13). Dies liegt u.a. daran, dass in dieser Fächergruppe sehr viele Personen mit Grundlagenforschung betraut sind, die wiederum häufiger als nicht relevant für außerwissenschaftliche Bereiche angesehen wird (ohne Abbildung). So sind von allen Befragten, die Grundlagenforschung betreiben, 29,1% aus den Naturwissenschaften (ohne Abbildung).

Dass sich die Relevanzprofile je nach Art des produzierten Wissens unterscheiden, ist sowohl mit Blick auf eine geeignete Wissenschaftskommunikation als auch auf wissenschaftspolitische Steuerungs- und Unterstützungsmaßnahmen für einen möglichen Wissenstransfer von Bedeutung.

Austausch mit relevanten Bezugsgruppen

Um eine allgemeine Bestandsaufnahme über die im Austausch stehenden Wissenschaftler:innen vorzunehmen, wurde im Berlin Science Survey im Anschluss an die Relevanzeinschätzungen erhoben, ob die Wissenschaftler:innen mit denjenigen gesellschaftlichen Gruppen im Austausch stehen, für die sie ihre Forschung als relevant ansehen. Diese Angaben, die in Abbildung 14 dargestellt sind, lassen sich als Indikator für den tatsächlich stattfindenden Wissenstransfer verstehen und liefern zugleich Informationen zum Grad der Ausschöpfung eines möglichen Wissenstransferpotentials.

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Abbildung 14 Austauschbeziehungen mit den relevanten Bereichen

Ein tatsächlicher Austausch ist mit Praktiker:innen als relevanter Bezugsgruppe am weitesten verbreitet (siehe Abbildung 14): Hier geben über 78 % der Befragten an, im Austausch zu stehen, wenn die eigene Forschung als „ziemlich“ oder „sehr relevant“ für diese Personengruppe angesehen wird. Weit über die Hälfte der Befragten, die die Forschung für die Medien als relevant erachten, sind auch mit diesen im Austausch (58,3 %, Abbildung 14). Noch höher ist der Anteil bei Kunst und Kultur (64,2 %), Wirtschaft (65,9 %) und der Zivilgesellschaft (68,3 %). Lediglich bei den Bezugsgruppen Politik und Bürger:innen ist der Anteil derer, die die eigene Forschung hier als relevant ansehen und mit den Gruppen auch im Austausch stehen unter 50 %. Dennoch ist auch hier der Austausch mit 47,2 % bzw. 46 % recht hoch (siehe Abbildung 14).

 

Wechselseitiger Wissenstransfer (Zeitpunkt des Austausches)

Während in den Anfängen der Debatten um Wissenstransfer dieser Austausch eher als unidirektionaler Prozess der Übermittlung von fertigem Wissen, sprich Forschungsergebnissen, an verschiedene Akteur:innen in der Gesellschaft verstanden wurde, etabliert sich in aktuellen Debatten ein Wissenstransferbegriff, der Wissenschaft in stärkerem wechselseitigen Austausch mit der Gesellschaft sieht (Nowotny et al. 2001). Dieses bidirektionale oder sogar multidirektionale Wissenstransferverständnis betont die Interaktion zwischen Wissenschaft und verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Solch ein Austausch kann in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses stattfinden.

Interaktionen vor dem eigentlichen Forschungsprozess können stattfinden, um z.B. von möglichen Wissensadressat:innen und potentiellen Nutzer:innen Anregungen oder Einsichten in deren Problemverständnis zu erhalten.

Interaktionen während des Forschungsprozesses umfassen nicht nur die berühmt gewordenen Citizen Science, bei denen Bürger:innen bspw. zum Sammeln von meist naturwissenschaftlichen Daten einbezogen werden. Es können auch stark anwendungs- und auf Problemlösungen bezogene Forschungen sein, die in enger Abstimmung mit außerwissenschaftlichen Partner:innen, wie z.B. „Praktiker:innen“ durchgeführt werden. Hierzu zählen u.a. die translationale Forschung, z.B. in der Medizin, aber auch Auftragsforschung für Wirtschaft- und öffentliche Einrichtungen. Austausch nach Abschluss des Forschungsprozesses ist nicht selten klassische Wissenschaftskommunikation, und damit aus Transferperspektive eher einseitig. Jedoch kann auch hier der Austausch als Grundlage für weitere Ideen und neue Forschungsansätze dienen, wenn es zu einer inhaltlichen Diskussion von Forschungsergebnissen kommt.

Das eigens für die Erhebung im Berlin Science Survey neu entwickelte Instrument zur Erhebung von Wissenstransfer ermöglicht eine sehr detaillierte Erhebung solcher Austauschprozesse. So wurde erhoben, in welchen Phasen – vor, während oder nach dem jeweiligen Forschungsprozess – Austausch stattfindet. Für den Austausch während des Forschungsprozesses wurde weiterhin unterschieden, ob der Austausch während der Planung des Forschungsdesigns, der Durchführung der Forschung oder der Interpretation der Forschungsergebnisse stattfand. Bei allen Fragen zum Zeitpunkt des Austausches, waren Mehrfachantworten möglich. Die besondere Detailtiefe in der Erhebung lässt Rückschlüsse auf die Intensität und Qualität des Austausches zu. So ermöglicht dieses Erhebungsinstrument es, einen breiteren Wissenstransferbegriff, der auch (bloße) Wissenschaftskommunikation umfasst, von einem engeren Transferbegriff zu unterscheiden, bei dem der Austausch auf inhaltlicher Ebene stattfindet.

Die zwei nachfolgenden Abbildungen 15 und 16 stellen dar, in welchen Phasen des Forschungsprozesses jeweils ein Austausch stattfindet. Es zeigt sich, dass Austausch in den verschiedenen Bereichen recht ähnlichen Mustern folgt: Insgesamt findet Austausch vor dem Forschungsprozess deutlich seltener statt, als während und nach dem Forschungsprozess. Bei der Beantwortung der Frage nach dem Zeitpunkt des Austausches waren Mehrfachantworten möglich, da natürlich mit Bezugsgruppen zu verschiedenen Zeitpunkten Austausch stattfinden kann. Durch die Mehrfachantworten können sich die Prozentangaben auf über 100 % aufsummieren.

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Abbildung 15 Austausch in den verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses

Abbildung 15 verdeutlicht außerdem, dass der Bereich „Medien“ beim Austausch eine Sonderstellung innehat, da Austausch vor dem Forschungsprozess quasi nicht stattfindet. Dies verwundert nicht, da die Medien nur für sehr wenige Forschungsfelder (wie Medien- und Kommunikationswissenschaften) selbst eine Quelle für Forschungsfragen darstellen. Vielmehr dominiert im Austausch mit Medien die Kommunikation im Anschluss an den Forschungsprozess (83 %). Dies ist nachvollziehbar, da die Medien Wissenschafts-erkenntnisse verwerten. Ähnlich verhält es sich mit dem Bereich der Politik, in dem ebenfalls wissenschaftliche Erkenntnisse verwertet werden. So überwiegt auch hier der Austausch nach dem Forschungsprozess (75 %), obgleich der Austausch bereits während des Forschungsprozesses (mit 66 %) ebenfalls recht hoch ist. Der Austausch mit allen anderen gesellschaftlichen Bezugsgruppen findet ganz überwiegend während des Forschungsprozesses statt und geht meistens mit einem Austausch bis nach dem Forschungsprozess einher. Besonders häufig ist der Austausch während des Forschungsprozesses mit Praktiker:innen (86,8 %).

In Abbildung 16 wird der Austausch während des Forschungsprozesses detaillierter aufgeschlüsselt. Hier zeigt sich, wie häufig bei der Entwicklung der Forschungsfragen, bei der Durchführung der Forschung oder bei der Interpretation der Ergebnisse interagiert wird. Bei der Beantwortung der Fragen wurden erneut Mehrfachnennungen zugelassen, sodass sich die Prozentsummen wieder auf über 100% aufsummieren können.

Auch bei dieser Darstellung zeigt sich erneut die Sonderstellung des Bereiches Medien: Während die Interaktion mit allen anderen Bereichen vorwiegend während der Forschungsdurchführung stattfindet, findet sie im Bereich Medien erst bei der Ergebnisinterpretation und -darstellung statt. Für alle anderen Bereiche gilt, dass der Austausch nicht selten bereits bei der Entwicklung der Fragestellung stattfindet. Dies trifft vor allem für den Austausch mit Partner:innen aus der Wirtschaft (61 %) und mit Praktiker:innen (50,6 %) zu. Aber auch beim Wissensaustausch mit Politik, zivilgesellschaftlichen Institutionen sowie Kunst und Kultur findet der Austausch in rund einem Drittel der Fälle bereits in dieser frühen Phase statt. Zudem fällt auf, dass der Austausch mit Praktiker:innen und der Wirtschaft häufiger als in den anderen Bereichen zu mehreren Zeitpunkten während des Forschungsprozesses stattfindet. Hier kann man also von einem nicht nur punktuellen, sondern kontinuierlichen Austausch ausgehen.

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Abbildung 16 Austausch in den verschiedenen Phasen während des Forschungsprozesses

Auf Status- und Fächergruppenebene zeigen sich kaum Unterschiede in der Zeitlichkeit des Austausches mit den jeweiligen, relevanten Gruppen.  Insgesamt interagieren Professor:innen geringfügig mehr (siehe Abbildung 17). Auf Fächergruppenebene sind es vor allem die Ingenieurswissenschaftler:innen, die am stärksten vor und während des Forschungsprozesses mit relevanten Gruppen im Austausch stehen (siehe Abbildung 18). Dies lässt sich auf die höhere Kooperationsquote mit Unternehmen in dieser Fächergruppe zurückführen (Lüdtke, Yankova, Ambrasat 2023).

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass zwar einerseits nicht überall dort Austausch stattfindet, wo die Forschung als relevant eingeschätzt wird, aber andererseits auch bei Weitem nicht von der sogenannten „Forschung im Elfenbeinturm“ gesprochen werden kann. Austausch mit relevanten Interessengruppen ist durchaus weit verbreitet und das nicht nur als nachgelagerte Wissenschaftskommunikation, sondern in einem beträchtlichen Umfang bereits vor und während des Forschungsprozesses.

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Abbildung 17 Austausch nach Phasen im Forschungsprozess, nach Statusgruppen

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Abbildung 18 Austausch nach Phasen im Forschungsprozess, nach Fächergruppen